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Unsere Gesellschaft taumelt

In jüngster Zeit wurden wir von drei Ereignissen erschüttert, die sozusagen keinen Stein auf dem andern gelassen haben.

Alle drei Erschütterungen kamen ziemlich unerwartet, haben bisherige Gewissheiten in Frage gestellt und dadurch eine Orientierungskrise ausgelöst. Das derzeitige politische und wirtschaftliche Durcheinander ist aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance, insbesondere für Christen und die christliche Gemeinde.Die erste Erschütterung war 1989 das Scheitern des sozialistischen Systems. Sie brachte die Berliner Mauer zu Fall. Bisher war im Osten klar gewesen, dass der Staat für gerechte Verhältnisse und Wohlstand sorgt (Etatismus). Diese Gewissheit scheiterte an der Realität. Der Versuch, staatlich gelenkt Wohlstand für alle zu schaffen, führte zu mehr oder weniger totalitären Systemen und kaum zu Reichtum, wie dies der Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland gezeigt hatte. Jetzt galt als neue Gewissheit: Die freie Marktwirtschaft wird es richten – die Privatinitiative (Liberalismus) wird von nun an global Freiheit und Wohlstand bringen.

 

2008 erlitt die Wallstreet – die weltgrösste Börse – einen Beinahe-Kollaps. Verschiedene Banken und Versicherungen gingen in Konkurs oder mussten – mit staatlicher Hilfe – gerettet werden. Damit war nach dem Etatismus auch der konsequente wirtschaftliche Liberalismus am Ende. Seither wird politisch diskutiert, wieviel Staatsintervention und Privatinitiative nötig sind, um das globale Wirtschaftssystem in einigermassen geordnete Bahnen zu bringen.

 

Die dritte Erschütterung hat uns der Islam gebracht. Erinnert sei etwa an die Minarett-Initiative oder die aktuelle Diskussion rund um die Burka. Der ganzheitliche Ansatz dieser Religion stellt den säkularen Staat und seine Gesetze in Frage. Der Islam will u.a. bei der Rechtssprechung, im Verhältnis von Mann und Frau, bei Kleidungsvorschriften und in Fragen der Integration mitreden. Die bisherige Gewissheit, Religion sei Privatsache, ist plötzlich gefährdet. Bisher liess der Staat die Religionen gewähren, solange sie ihn nicht störten (Laizismus). Dieser Staat muss nun plötzlich Antworten auf «religiöse» Fragen geben und erklären, aufgrund welcher Leitkultur er seine Entscheide fällt. Und er muss sich eingestehen, dass er die Wurzeln und Regeln des Zusammenlebens, die Kraft der Religionen und die Frage nach der Leitkultur unterschätzt hat.

 

Diese dreifache Erschütterung und die damit verbundene Orientierungskrise ist eine Chance – gerade auch für Christen. Bei näherer Betrachtung wird nämlich rasch klar, dass sowohl der Etatismus (der Staat wird es richten), wie auch der Liberalismus (die Marktwirtschaft bzw. die Privatinitiative wird es richten) und der Laizismus (der Staat hat nichts mit Religion zu tun) im Grunde genommen atheistische Konzepte sind. Christen können deshalb in den aktuellen Diskussionen an vorderster Front ideologiefrei nach dem sinnvollen Verhältnis zwischen Staat und Privatinitiative fragen. Das Resultat könnte eine werteorientierte, ökosoziale Marktwirtschaft sein, in der z.B. die Banken wieder dem Gemeinwohl dienen. Gleichzeitig ist die aktuelle Staatskrise für Christen und die christliche Gemeinde eine gute Gelegenheit, die eigenen Wurzeln und Regeln des Zusammenlebens und die Kraft des christlichen Glaubens in die längst notwendige Diskussion um die Leitkultur einzubringen. Christlich verstandene Liebe ermöglicht Toleranz und wendet sich deswegen gegen den Gottesstaat, christlich verstandene Freiheit orientiert sich an der Gemeinschaft und verunmöglicht deshalb einen ungebremsten Liberalismus, und schliesslich setzt die christliche Relativierung des Staates als vorläufige Ordnung dem Etatismus Grenzen.

 

Für die christliche Gemeinde sind heute weder Endzeitängste noch Rückzugsszenarien gefragt. Es ist entscheidend, dass unsere Kirchen ihren Platz in der Gesellschaft selbstbewusst einnehmen: als Ressource, Modell und Zukunftswerkstatt. Und dabei nicht vergessen, ihre Leute auszusenden. Damit sie, geprägt vom christlichen Glauben, verstärkt einen Beitrag bei der Entwicklung unserer taumelnden Gesellschaft leisten können – hin zu einer Gesellschaft, die sich ideologiefrei an Werten orientiert, die dem Wohl aller dienen.

 

hanspeter.schmutz@insist.ch